Wer am Friedhof St. Anton in Hohenems flaniert, begegnet alten Bekannten – manche ruhen, andere grüßen zurück. Zwischen den Grabsteinen entstehen Gespräche über Gott und die Welt – mit jenen, die noch leben.
Besonders zu Allerheiligen, wenn viele Menschen die Gräber ihrer Angehörigen besuchen, verwandelt sich der Friedhof in einen Ort der Erinnerung, der Begegnung – und manchmal auch der Überraschung.
Dort traf ich eine Frau, von der ich später feststellte, dass sie meine Cousine zehnten Grades ist. Unser gemeinsamer Vorfahre, Martin Bischof, geboren um 1610, lebte mit seiner Familie in Damüls und hatte sieben Kinder.
Ihre Tante war einst eng mit meinem Onkel verbunden. Vermutlich hätten die beiden geheiratet, wäre mein Onkel nicht im Zweiten Weltkrieg bei einem Flugzeugabsturz in Afrika ums Leben gekommen. Deshalb nenne ich ihre Tante – mit einem Augenzwinkern – meine „Konjunktiv-Tante“.
„Konjunktiv-Tante“ – eine liebevoll erfundene Verwandtschaftsbezeichnung. Eine hypothetische Tante, die es nie ganz zur echten geschafft hat. Der Begriff spielt charmant mit der deutschen Grammatik: Der Konjunktiv steht für das Mögliche, das Gewünschte, das Nicht-Reale – und genau das trifft hier zu.
Unser Gespräch drehte sich jedoch nur um die Frage, wie die Bekanntschaft zwischen meinem Onkel, meinem Vater und ihren Eltern zustande kam. Bald stellte sich heraus: Der Skiverein Hohenems war die verbindende Brücke. Dass ihre Tante einst mit meinem Onkel befreundet war, erwähnte ich nicht.
Mein Onkel , Otmar Johann Anton Mayr (1919-1943), ein Mann, den ich nie kennenlernen durfte.
Er war Mitglied im Skiverein Hohenems, im Wehrsportverein NSFK, im Trachtenverein und in der Segelfluggruppe Hohenems. Während des Zweiten Weltkriegs diente er als Bordfunker der Deutschen Luftwaffe. Er starb bei der Landung mit einer Junkers Ju 88. Seine Geschichte zieht wie ein stiller Schatten durch unsere Familie. Hätte er überlebt, hätte er wohl jene Frau geheiratet. Sie wäre meine Tante geworden – nun ist sie meine liebe Konjunktiv-Tante.
In einem anderen Leben, zu einer anderen Zeit, wären wir vielleicht gemeinsam aufgewachsen. Hätten dieselben Feste gefeiert, dieselben Geschichten gehört. Stattdessen begegneten wir uns zufällig – verbunden durch eine fast geschehene Liebe und einen Krieg, der so vieles verhindert hat.
Diese Begegnung war still, aber bedeutungsvoll. Ein kurzer Moment, in dem sich Vergangenheit und Möglichkeit berührten. Und vielleicht liegt genau darin die Magie des Lebens: Dass selbst das, was nie war, Spuren hinterlassen kann.
Heute sind wir alle – durch andere familiäre Verbindungen – in einem digitalen Stammbaum-Netzwerk miteinander vereint: mein Onkel, seine beinahe gewordene Braut, ihre Nichte und ich. In diesem Netzwerk werden Erinnerungen bewahrt und Verbindungen sichtbar gemacht, die selbst hypothetische Verwandtschaften wie die zur „Konjunktiv-Tante“ nicht ausschließen.
Vielleicht ist es gerade diese Mischung aus gelebter Geschichte und ungelebter Möglichkeit, die mich seit einem Vierteljahrhundert zur Ahnenforschung bewegt. Mein Name ist Otmar Mayr, und ich betreibe die Plattform www.verwandten.info, auf der sich Familiengeschichten, Stammbäume und Begegnungen wie diese zu einem großen Ganzen fügen. Denn manchmal sind es gerade die kleinen Zufälle auf einem Friedhof, die große Geschichten ans Licht bringen.